Dr. Barbara Weyandt

Sätze wie Bremsklötze. Die Tapetenbilder von Charlotte Pohle. 

Entspann dich mal! Dass du dich nicht schämst! Träum weiter! Das bringt doch eh nichts. Du bist so naiv! Hab dich mal nicht so!“. Nur eine kleine Auswahl aus dem Fundus der Sätze, die Charlotte Pohle sammelt und künstlerisch visualisiert. Doch sie reicht bereits aus, die zersetzende Energie dieser immanent feindseligen Sentenzen zu verdeutlichen.

Charlotte Pohles „Tapetenbilder“ sind im Grenzbereich zwischen Bild und Sprache angesiedelt. Auf plakatartigen Bildträgern (53 x 115cm) verschriftet sie mit Tusche und Acrylfarbe gängige und dem Betrachter oftmals erschreckend vertraute Sprüche aus der Welt der repressiven Pädagogik und herabsetzenden Kommunikation.

Die Bandbreite der Parolen ist groß, im Wesentlichen gebärden sie sich als Ratschläge oder Appelle, gelegentlich tarnen sie sich als Fragen. Scheinbar gut gemeint, transportieren sie stets Kritik und Tadel am Verhalten des Gegenübers, mal offen, mal unterschwellig. Sie enthalten behauptende Zuschreibungen und Unterstellungen, die darauf zielen, beim Adressaten mindestens Scham und Selbstzweifel auszulösen. Erteilt werden diese „Ratschläge“, die als feststehende Wortverbindungen in die Sparte rhetorischer Stilmittel zu zählen sind, von der hohen Warte eigener, als normativ gedachter Werte- und Moralitätsvorstellungen. Als Beispiele sprachlicher Übergriffigkeit sprechen sie auch von Macht- und Dominanzverhältnissen.

Ihr Wirken ähnelt dem eines „Trojaners“: Als nützliche Anwendung getarnt, zielen sie im Hintergrund auf eine andere, das infiltrierte System lähmende Funktion ab. Die Idiome erweisen sich somit als perfide Methode, das Gegenüber zu schwächen und seiner Motivation zu berauben. Es sind Sätze wie Bremsklötze, da sie lähmen, Sätze wie Dampfhammer, da sie umformen und deformieren möchten, Sätze wie Projektile, da sie tief eindringen und verletzen.

Das unterscheidet Charlotte Pohles Redewendungen auch von den tendenziell harmlosen „Truisms“ einer Jenny Holzer, die ebenfalls im Bereich „Word & Image“ anzusiedeln sind. Auf den ersten Blick scheinen Holzers weit verbreitete Binsenweisheiten und deren generalisierende Statements mit Charlotte Pohles „Tapetensprüchen“ verwandt zu sein. Doch perlen erstere ihrer Oberflächlichkeit und Banalität wegen an den Lesern weitgehend ab, während die „Tapetenbilder“ schmerzhaft unter die Haut gehen.

Anders verhält es sich mit den „Proverbes“, die Annette Messager sammelte und in „Stickbildern“ festhielt. Diese durchgängig frauenfeindlichen Sprichwörter entfalten die gleiche destruktive Sprach-Macht, die auf Abwertung und soziale Konditionierung zielt, wie wir sie bei Charlotte Pohles Beispielen antreffen. Als „collectioneuse“ ist Messager hier Vorläuferin von Charlotte Pohle, die ebenfalls künstlerische Sammelarbeit betreibt.

Wort und Bild gelten gemeinhin als getrennte Sphären. Schrift dagegen ist visualisierte Sprache. Auch sie kann Inhaltsträger werden. Schrift und Bild durchdringen sich in Charlotte Pohles Tapetenbildern auf überzeugende Weise: Die Künstlerin wählt den Modus der Handschriftlichkeit. Auf den Bilduntergründen verteilt sie die Buchstaben und Wörter in einem trotzig-unordentlichen Duktus. Das betont Gestische der Erscheinung sorgt für den expressiven, aufwühlenden und authentischen Charakter der Tapetenbilder.

Aufbegehren gegen etwaige Ordnungsvorstellungen und Zwänge zeigt sich auch im Verzicht auf eine geradlinige Zeilenführung und die bildfüllende Verteilung der Schrift. Souverän werden korrekte Orthografie, Grammatik und Interpunktion ignoriert. Die Schrift, − groß, spontan und laut −, ist nicht nur lesbar, sondern durch ihre expressive Repräsentationsform quasi hörbar. Charlotte Pohle erzeugt dadurch einen starken, gleichsam synästhetischen Effekt. Semantischer Bedeutungsgehalt und visuelle Gestaltung korrelieren überzeugend.

An Stelle vertrauter Materialien wie Papier oder Leinwand benutzt Charlotte Pohle zurechtgeschnittene Tapetenbahnen. Nicht nur die Art und Weise der graphischen Notation, auch das Material der Bildträger sorgt daher für einen semantischen Mehrwert. Tapeten dienen bei der Wohnungsausstattung dem Wohnlichen, Heimeligen und Schmückenden. Sie können aber auch Sinnbilder verfehlten Geschmacks und spießbürgerlicher Enge werden. Die so evozierte Atmosphäre von Biederkeit und Konformität mit ihrem Ansinnen nach Behaglichkeit steht in scharfem Kontrast zu den Sätzen von Charlotte Pohle und verweist auf ein beengendes soziales Binnenklima. Vor dieser Folie verstärkt sich die Botschaft der Tapetensprüche mit ihren jeweiligen Erwartungshaltungen und verkappten Rollenbildern um ein Weiteres.

Charlotte Pohle variiert die Untergründe nach Struktur, Ornament und Farbe. Die einzelnen Tapetenbilder können wie Module in vielerlei Kombinationen gezeigt werden, womit sich ein weites Feld an visuellen Möglichkeiten öffnet. Ob als dicht gehängte Wandinstallation oder auf dem Boden liegend, entfalten sie ihr Potenzial im Innenraum. Im Rahmen der „Litfaßsäulen“-Aktion in Köln (2021), einer Intervention im städtischen Raum,[1] gelingt Charlotte Pohle die Übertragung in den Bereich der Public Art. Auf 28 Litfaßsäulen werden Fotografien von ausgewählten Tapetenbildern gezeigt. Diese werden jedoch nicht als isoliertes Artefakt abgelichtet, sondern von einer fast gänzlich verdeckten Person dem Betrachter entgegen gehalten. Nur die Hände, Arme und Beine der Plakatträgerin sind fragmentarisch sichtbar. Das Individuum verschwindet hinter der Phrase. Damit gelingt Charlotte Pohle ein sprechendes Bild für die destruktive Macht der besagten Redewendungen.

Zugleich verschiebt sie jedoch auch den Fokus der Wahrnehmung vom betroffenen, aber gesichtslosen Individuum auf die Allgemeinheit und löst die negative Erfahrung der perfiden Sentenzen aus ihrer persönlichen Vereinzelung und Privatheit. Sätze, ansonsten im Zwiegespräch ausgesprochen, werden nun als stumme Anklage demonstrativ nach außen getragen. Auch befreit die Platzierung im öffentlichen Raum die Tapetenbilder aus dem musealen Kontext und  dehnt deren Reichweite -über die typische Kunstklientel hinausgehend- in die Normalität eines gesellschaftlichen Alltags aus.

Und das ist gut so: Diese Sätze (be)treffen uns alle. Charlotte Pohle wendet das Blatt, um im Bild zu bleiben, und geht an die Öffentlichkeit. Es handelt sich damit um einen künstlerischen Akt der Selbstbehauptung und Ermächtigung, der bei einem breiten Publikum Sensibilisierung und Gewahrwerdung auslösen kann.

In historischer Hinsicht ist die Anbringung der indoktrinierenden Sprüche auf Litfaßsäulen besonders sinnhaltig. Litfaßsäulen, als Werbeträger viele Jahrzehnte nicht aus dem Stadtbild wegzudenken, waren zu Beginn ihres Aufkommens nicht nur ein architektonisches, urbanes, sondern auch ein autoritäres Element.[2] Nur logisch, dass Charlotte Pohle das populäre Stadtmöbel und frühe Massenmedium nun wieder mit Plakaten versieht, um Sprache als Lenkungselement zu entlarven.

[1]  Die Litfaßsäulen-Aktion ist eine Initiative des Kölner Kulturamts, die seit 2015 mit wechselnden Künstlern stattfindet.

[2] Wie uns ein Beitrag von Gerhard Matzig in der Süddeutschen Zeitung wissen lässt. https://www.sueddeutsche.de/kultur/werbung-wie-die-litfasssaeule-die-digitalisierung-ueberlebt-1.2857564. Abruf 05.11.21

 

Anlässlich der Aktion Kunst an Kölner Litfaßsäulen, 2021